Außenpolitik

Zerbrochene Welten & Globale Transformationen

Eine Zeitenwende mit Ansage

“She’s green. She’s young. And she wants to change Germany”, so betitelte die New York Times während des Wahlkampfs einen Bericht über Annalena Baerbock. Der Plan, Deutschland zu verändern, hat vielleicht nicht so geklappt, wie sie es als Kanzlerkandidatin gedacht hatte, doch warum nicht einfach als Außenministerin gleich Europa oder die ganze Welt verändern? Diese einleitenden Worte sind alles, was von meiner ersten Fassung des Textes von Anfang Februar geblieben ist. Dass der Text, der sich eigentlich mit feministischer Außenpolitik beschäftigen sollte, sich mit einer solchen Dramatik aufladen würde, bei der eine weltpolitische Zeitenwende im Zentrum stehen könnte, hätte ich nicht erwartet. Doch heute steht die russische Armee vor Kiew und ukrainische Städte werden bombardiert. Nicht für möglich gehaltene Worst-Case-Szenarien sind eingetreten. Vladimir Putins Russland ist zu einer Gefahr für Europa geworden.

Ich möchte das kurz vorweg schicken: Dieser Text ist lang. Ich kann an dieser Stelle nur um Verständnis bitten, dass sich dieser Erklärungsversuch der komplexen Lage kaum in 5 Minuten Lesezeit komprimieren lässt. Die ganze Welt diskutiert darüber, was in der Ukraine passiert, welche Auswirkungen drohen und was die Politik tun sollte. Und nicht nur, wer über das Thema mit seinen Freunden diskutieren möchte, sollte die Zusammenhänge verstehen und auf welchen Grundlagen dieser Krieg stattfindet. Denn er betrifft uns, hat bereits massive Auswirkungen auf unsere Zukunft und es ist einfach nicht mehr ausgeschlossen, dass er noch näher rückt.

Es wird mit vollem Ernst über das Szenario eines Dritten Weltkriegs gesprochen. Es werden gerade Entscheidungen getroffen und Aussagen gemacht, die im Nachhinein als historischer Fehler bezeichnet werden könnten. Es kann zu Ereignissen kommen, ob zufällig oder beabsichtigt, die Historiker später als Franz-Ferdinand-Moment einstufen. Diese Woche ist 20 Kilometer vor der polnischen Grenze, und damit des Territoriums auf dem ein NATO-Bündnisfall erzeugt würde, eine russische Rakete eingeschlagen. Jeder Blick in meinen Nachrichtenticker, der minütlich Schreckensmeldungen aus der Ukraine auf unsere Handys befördert, endet dennoch mit einem merkwürdigen Gefühl der Erleichterung, dass keine der Befürchtungen eingetreten ist, die uns an den Rand eines umfassenden Krieges bringen.

Welche folgenschweren Veränderungen sich aus dieser heftigen aber noch jungen Krise ergeben werden, kann noch niemand definitiv sagen. Dass der Angriff auf die Ukraine eine neue Dimension in den bestehenden Krieg bedeutet, war sofort klar und im Laufe der Woche kam überall an, dass es sich nicht nur um einen Bruch des Völkerrechts, sondern auch um einen Bruch in der internationalen Ordnung handelt. Ein paar geopolitische Wirkungen kristallisieren sich langsam heraus. Diese sind nur schwer sichtbar, sind aber wichtig zum Verständnis der komplexen Konfliktlage und dem, was derzeit als “Zeitenwende” die Runde macht. Dieser Kontext ist wichtig, denn Russlands Angriff ist nicht das einzige sicherheitspolitische Problem Europas. Dazu kommen wir später.

Ein Test für den globalen Zusammenhalt

Die Invasion in die Ukraine wirft mehr Fragen, auf als die, wer in dem Land die Regierung stellt. Nach mehr als 70 Jahren und 30 Jahre nach dem friedlichen Zusammenbruch des autokratisch aus Moskau dirigierten Ostblocks ist es nicht mehr selbstverständlich, dass territoriale Souveränität als zwischenstaatliches Grundprinzip des Friedens in Europa respektiert wird. Um die Wirkmacht dieses Paradigmenwechsels zu verstehen, muss man einen Blick auf die etablierte politische Nachkriegsordnung (Europas) werfen: Nach welchen Regeln wird auf dem Spielfeld der internationalen Politik eigentlich gespielt? Wer hält sich an Regeln, Vereinbarungen und Bündnisse und wie geht man mit Regelbrüchen um? Wie arbeiten wir international zusammen? Passen die Regeln, die wir uns vor mehr als 60 Jahren für das Zusammenleben der Staaten gegeben haben noch in die heutige Zeit? Die Nachrichtenlage spricht nicht dafür. Wenn niemand mehr nach den Regeln spielt, wenn die Welt anders aussieht, als damals, bleibt die Frage: Müssen wir die Regeln anpassen oder deren Einhaltung konsequenter durchsetzen? 

Angriffe von islamistischen Terroristen werden häufig als Attacken auf den westlichen, “unseren” Lebensstil verallgemeinert. Der Angriff Russlands auf die Ukraine kann mindestens genauso als Angriff auf die Souveränität von Staaten, auf die internationale Ordnung und die europäische Sicherheitsarchitektur verstanden werden. Bahnt sich hier ein Systemkonflikt an, gar ein “Krieg der Kulturen”, wie in manchem Kommentar zu lesen war? Steht in der Ukraine, wie es Präsident Selenskij vor dem EU-Parlament gesagt hat, nicht nur sein Volk sondern die Zukunft liberaler Demokratien unter Beschuss? Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zumindest warnte vor den Vereinten Nationen eindringlich vor diesem Szenario und engt es zugleich auf das russische Vorgehen in der Ukraine ein: 

“Sie sagen, Sie handeln aus Selbstverteidigung. Aber die ganze Welt hat gesehen, wie Sie über Monate zur Vorbereitung dieses Angriffs Ihre Truppen zusammengezogen haben.

Sie sagen, Russland handelt, um russischsprachige Menschen vor Aggression zu schützen. Aber heute sieht die ganze Welt, wie Sie die Häuser von russischsprachigen Ukrainerinnen und Ukrainern in Charkiw bombardieren.

Sie sagen, Russland schickt Friedenstruppen. Aber Ihre Panzer bringen kein Wasser, Ihre Panzer bringen keine Babynahrung, Ihre Panzer bringen keinen Frieden. Ihre Panzer bringen Tod und Zerstörung. Und in Wahrheit missbrauchen Sie Ihre Macht als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats.

Herr Lawrow, Sie können sich selbst täuschen. Aber uns täuschen Sie nicht. Unsere Völker werden Sie nicht täuschen – und auch Ihr eigenes Volk werden Sie nicht täuschen.”

Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Notstandssondertagung der VN-Generalversammlung zur Ukraine – Auswärtiges Amt (auswaertiges-amt.de)

Vereinbarungen und Regeln bieten Sicherheit. Doch ohne das Einhalten von Zusagen, die Verlässlichkeit von Aussagen, ist jegliche Diplomatie nutzlos. Das alles wird durch die russische Aggression, nicht erst seit dem 24. Februar, sondern spätestens seit der Annexion der Krim massiv infrage gestellt. Sie steht in einer Reihe mit Putins Verfolgung und Vergiftung innenpolitischer Gegner, mit seinem militärischen Vorgehen in Georgien und Tschetschenien, mit dem Einsatz seiner Söldnertruppe “Wagner” in Libyen, Mali und Zentralafrika, mit der Unterstützung für Assad in Syrien inklusive eines Giftgaseinstzes und der schmutzigen Kriegsführung ohne Rücksicht auf zivile Infrastruktur und die Bevölkerung. Dasselbe droht nun Mariupol, Charkiw, Kiew und weiteren ukrainischen Städten.  Militärexperten schätzen die Chance auf einen ukrainischen Sieg als nur sehr gering ein. Russland kann den Krieg militärisch gewinnen aber nicht die Unterstützung der Ukrainer und damit auch keinen Frieden in einem besetzten Land. Wie wird es dann weitergehen?

Putin wirkt derzeit auf manche wie ein Wahnsinniger mit Drang zur Zerstörung und Selbstzerstörung. Doch er ist immer noch ein rationaler Stratege, der 2014 mit der Annexion der Krim die Grundpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur angesägt und nun mit der Invasion in die Ukraine endgültig eingerissen hat.

“Er setzt auf das Recht des Stärkeren und auf die Schwäche der Staaten, die auf die Stärke des Rechtes setzen.”

Christoph Heusgen im Artikel “Der Bruch”, Süddeutsche Zeitung 4. März 2022

Er bricht wiederholt die Regeln und zieht Vorteile daraus. Er setzt die Welt vor eine permanente Bedrohung durch das mögliche Eintreten weiterer Worst-Case-Szenarien. Das ist eine dramatische Änderung der Logik in den internationalen Beziehungen. Er darf damit keinen Erfolg haben. 

“Sicherheit in Europa kann es nur mit Russland geben” wurden Diplomaten und Sicherheitspolitiker häufig zitiert. Die letzten Tage haben uns das Gegenteil bewiesen. Wir wissen nun, dass Putin nicht davor zurückschreckt, die schlimmsten Prognosen zu erfüllen und müssen uns fragen, welche der bisher undenkbaren Pfade er als nächstes beschreiten könnte. Die europäische Sicherheitsarchitektur muss sich auf ein neues Grundgerüst stellen. Es schmerzt, sagen zu müssen, dass Russland offensichtlich auch kein Interesse hat, produktives Mitglied einer solchen Ordnung zu sein. Die logische Konsequenz ist, dass Europa seine Strukturen nicht mehr mit, aber um Russland herum und sogar in Opposition dazu bauen muss. Frankreichs Präsident Macron forderte am 10. März beispielsweise einen “europäischen Resilienzplan”, ganz im Sinne seiner wiederholten Idee der “strategischen Autonomie”, um im Weltgeschehen nicht mehr nur in Abhängigkeit von den USA eine Nebenrolle zu spielen.

Doch der Angriff schlägt auch über Europa hinaus Wellen. Der Begriff “internationale Ordnung” wie er gerade in diesen Tagen wieder häufiger benutzt wird, beschreibt die impliziten und expliziten Regeln des zwischenstaatlichen Zusammenlebens. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man versucht, eine Ordnung zu etablieren, die eine Wiederholung des globalen Schreckens verhindern kann. Mit den Vereinten Nationen und dem Sicherheitsrat sollten Organe geschaffen werden, die Konflikte zwischen Staaten über Verhandlungen regulieren. Jedoch hat man den ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats eine Vetorecht zugestanden. China, Russland, die USA, Großbritannien und Frankreich können jede Resolution und damit alles, was ihren eigenen Interessen widerspricht, blockieren. Russland brauchte eine Verurteilung der Invasion in der Ukraine durch den Sicherheitsrat niemals fürchten. Dieser Geburtsfehler der internationalen Ordnung trägt seinen Teil auch zum heutigen Konflikt bei. (Dass Russland bspw. den Internationalen Gerichtshof nicht anerkennt, ist ebenfalls ein kleines Puzzleteilchen in der russischen Lossagung von allen Normen und Pflichten.) Der Bruch der internationalen Regeln darf nicht zum Vorteil werden, – nicht für Atommächte, nicht für ein Mitglied des Sicherheitsrates, nicht für irgendeinen anderen Staat – und deshalb nicht unbeantwortet bleiben. Sonst werden auch andere Staaten diesen Weg beschreiten und große Konflikte unvermeidbar.

Zahlreichen ukrainischen Städten droht das Schicksal Aleppos.

Globalisierung, europäische Integration, Institutionalisierung auf internationaler Ebene (G7, AU, ASEAN), die wirtschaftlichen Entwicklungen sind mittlerweile Selbstverständlichkeiten aber immer noch massive Veränderungen, die in den letzten 70 Jahren stattgefunden haben. Hinzu kommen Digitalisierung, geopolitisch-ökonomische Infrastrukturprojekte wie die neue Seidenstraße, die Etablierung einer global vernetzten Zivilgesellschaft, zuletzt eine Pandemie und in Osteuropa werden gerade die Nachwehen des Zusammenbruchs der Sowjetunion zum sicherheitspolitischen Erdbeben. Diese Krise macht erneut sichtbar, wie an zahlreichen Stellen der internationale Ordnung und ihrer Institutionen Anpassungen notwendig sind, um Blockaden zu überwinden, die ansonsten eine zerstörerische Zukunft bereithalten.  

Dieses Erdbeben rüttelt auch an den pazifistischen Grundfesten der Grünen. Die Häufung der Krisen ist dramatisch (und wird noch überlagert von einem existenziellen Problem: Dem Klimawandel). Wir werden uns wieder häufiger mit dem Thena Sicherheit, Krieg und Frieden, den aktuell zur Debatte stehenden, sehr grundsätzlichen, Fragen auseinandersetzen. Das werden keine leichten Diskussionen: Welchen Weg finden wir zwischen Zurückhaltung und Verantwortung? Zwischen dem Risiko weiterer Eskalation und dem Verhindern grausamster Verstöße gegen die Menschenrechte? Zwischen der Einzelfallentscheidung und den langfristigen Zusammenhängen im größeren Rahmen? Es sind Fragen, die man sich seit Ruanda 1994, Srbrenica 1995, Syrien 2014 stellt und weltweit keine tragfähigen Antworten gefunden hat. Denn auch ein UN-Werkzeug wie die “Responsibility to Protect”, die Grundlage einer Friedensmission aufgrund der Schutzverantwortung für Völker, deren Staat ihren Schutz nicht mehr gewährleisten kann, wird es mit Russlands Veto im Sicherheitsrat nicht geben.

Sehr bildlich sehen wir aber genau das nicht weit von uns: Eingekesselte Städte, das Verhindern humanitärer Korridore, zerbombte Wohnhäuser, Krankenhäuser. Und nun die Meldung, dass das Theater in Mariupol, Herberge für Hunderte Zivilisten, die darauf warteten aus der Stadt fliehen zu können, Ziel einer russischen Rakete war. Auf Luftbildern war deutlich erkennbar, dass die Ukrainer dort das russische Wort für “Kinder” auf dem Vorplatz des Theaters geschrieben hatten. Die Bilanz der letzten drei Wochen: Tausende getötete Zivilisten, die Ukraine um Jahrzehnte zurückgeworfen und zertrümmert. Trotzdem gilt: NATO, EU, der Westen müssen eine direkte Beteiligung unbedingt vermeiden, um keine weitere Eskalation zu riskieren und damit, dass auch an anderen Orten Europas derartige Gräueltaten drohen. 

Doch man muss sich auch die Frage gefallen lassen, wie lange man noch dabei zuschaut, wie ein Land in unserer Nachbarschaft weiteren Kriegsverbrechen zum Opfer fällt und wie man verhindern möchte, dass Putin sein Ziele militärisch durchsetzt. Lange haben wir uns vorgemacht, dass Putin nicht zu imperialistischen Mitteln greift, müssen wir uns auch eingestehen, dass es sowieso nie nur um die Ukraine ging? Wie weit lässt man Putin gehen? Ist die Eskalation nicht sowieso schon schlimm genug? Müssen wir eingreifen? Können wir überhaupt eingreifen? Spielen wir nur Putins Spiel mit, der einem schwachen, zahnlosen Westen kalkuliert und nur die Sprache militärischer Stärke versteht? Führt er mit den Verhandlungen nur wieder alle vor, um lediglich Zeit für seine Soldaten zu gewinnen?

Wir können es nicht mit Sicherheit sagen. Was wir mittlerweile wissen: Die friedlich-kooperative Ordnung Europas mit Russland ist beendet. Diese Änderung in den Beziehungen müssen wir anerkennen und für die Zukunft neu denken, dass hier nun konfrontativ miteinander umgegangen wird. Wie werden wir uns dort wirtschaftlich und sicherheitspolitisch organisieren? Das ist eine zentrale Frage der Zeitenwende. 

Was ist eigentlich diese “Zeitenwende” von der alle reden?

Die Bundesregierung hat die strategische Dimension zum Glück schnell erkannt. Schaut man auf die wenigen Ausschnitte zum Thema Außenpolitik aus dem Bundestagswahlkampf zurück, liegt die Vermutung nahe, dass es sich derzeit auszahlt, eine Völkerrechtlerin mit Weitsicht als Außenministerin zu haben. 

Die Grundsätze der Vereinten Nationen bilden den Rahmen für unseren Frieden: Für eine Ordnung auf der Grundlage von gemeinsamen Regeln, dem Völkerrecht, Zusammenarbeit und friedlicher Konfliktbeilegung. Russland hat diese Ordnung brutal angegriffen. Und deshalb geht es in diesem Krieg nicht nur um die Ukraine, nicht nur um Europa, sondern um uns alle.

Russlands Krieg bedeutet ein neues Zeitalter. Wir stehen an einem Scheideweg. Die Gewissheiten von gestern gelten nicht mehr. Heute sind wir mit einer neuen Realität konfrontiert, die sich niemand von uns ausgesucht hat. Es ist eine Realität, die uns Präsident Putin aufgezwungen hat.”

Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Notstandssondertagung der VN-Generalversammlung zur Ukraine – Auswärtiges Amt (auswaertiges-amt.de)
© Florian Gaertner/photothek.de

Dass die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs verheerend sein werden, muss ich wahrscheinlich nicht erklären. Das gilt aber nicht nur für die Ukraine, sondern weit darüber hinaus. Wir erleben gerade eine Phase, in der internationale Stabilität nicht mehr gegeben ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Welt in Trümmern. Den Aufbau (Westeuropas) haben die Amerikaner geprägt. Von der UdSSR im Kalten Krieg herausgefordert, ergaben sich im Schatten des Großmachtkonflikts zahlreiche Stellvertreterkriege, Risse und Konfliktlinien innerhalb von Gesellschaften, die bis heute nicht überwunden sind. Die Ukraine ist nur ein Beispiel dafür, doch in zahlreichen Ländern Osteuropas schwelen solche Konflikte, die in den letzten Jahren geschürt wurden. Und nachdem die USA auf der Weltbühne den Ton vorgegeben haben, sehen wir seit dem 11. September, wie diese stolze Demokratie international zunehmend  ihre Führungsrolle einbüßt und ihr Präsidentenamt und das Kapitol demokratiefeindlichen Einflüssen überlasst. Auch der Oberste Gerichtshof der Staaten, der Hüter der Demokratie und Gewaltenteilung, ist längst zum ideologischen Ground Zero verkommen, auf dem zuletzt zunehmend auch zivilbürgerliche Errungenschaften immer stärker gefährdet sind, weil rassistische, sexistische und queerfeindliche Positionen die Mehrheit erlangen können.

China auf der anderen Seite spielt seit Jahren ein gut orchestriertes Spiel und gewinnt vor allem mittels seines ökonomischen Schwergewichts Zug um Zug Einfluss in Asien, Afrika und eben auch Osteuropa. Änderungen im „internationalen Gleichgewicht“ waren stets von gewaltsamen Auseinandersetzungen begleitet. Die Hauptakteure wollen sich möglichst viel Einfluss sichern, um ihre nationalen Interessen langfristig durchsetzen zu können, und geraten dabei in Konflikte, die in einer global vernetzten Welt auch andere Länder betreffen. Man darf sich dabei nichts vormachen: im aktuellen Konflikt könnten beispielsweise auch die USA einer der großen Gewinner werden, da sie ihre alte hegemoniale Stellung in Europa wiedergewinnen könnten (sollte es die EU tatsächlich nicht schaffen, hier eine autonome und krisenresiliente Position einzunehmen). Will Europa autonom werden, braucht es vorübergehend amerikanische fossile Brennstoffe.

Zur Bearbeitung solcher Konflikte wurde das Völkerrecht und Institutionen wie der Internationale Gerichtshof etabliert. Russland hat bereits mehrfach gegen internationales Recht verstoßen und der Angriff auf die Ukraine bildet einen neuen Höhepunkt. Wenn diese Regeln und Institutionen nichts mehr wert sind, stellt sich die Frage, wie die genannten Akteure mit bestehenden Konflikten umgehen. Am 10. März war der internationale Aktionstag zur Erinnerung an den tibetanischen Aufstand gegen das chinesische Regime im Jahr 1959. Tibet steht in einer ganzen Reihe ungelöster Konflikte, ebenso wie die Frage des Hoheitsanspruchs Chinas auf Taiwan. Wie wird China mit Taiwan und den Anrainerstaaten im Südchinesischen Meer umgehen? Wie lange wird noch toleriert, dass die Volksrepublik durch die Aufschüttung von Inseln ihr Territorium erweitert?  Indien und China stehen sich an ihrem umstrittenen Grenzverlauf  mit 100.000 Soldaten gegenüber. Erst letztes Jahr hatten wir einen offenen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach. Nordzypern, Kosovo, Transnistrien, Westsahara, Kurdistan und die israelischen Siedlungen sind nur ein paar Beispiele, in denen weitere Eskalationen drohen.

Letzte Woche wurde gemeldet, dass Indien versehentlich eine Hyperschall-Rakete auf Pakistan abgefeuert hat. Um das klar und deutlich zu benennen: Eine Atommacht, hat eine – wenn auch unbeabsichtigt – Rakete auf eine andere Atommacht abgefeuert. Welch verheerende Folgen eine Fehlinterpretation oder ein Einschlag auf bewohntes Gebiet oder eine Militärbasis hätte haben können, mag man sich kaum ausmalen. Und auch diese beiden Länder streiten in Kashmir um Territorium. Wenige Tage später wurden aus den Iran sechs Raketen auf das US-Konsulat und ein US-Luftwaffenstützpunkt in Erbil im Irak geschossen. Der Angriff ist wohl als Reaktion auf die Tötung zweier iranischer Offiziere durch Israel letzte Woche zu bewerten und dennoch eine gefährliche Eskalation in einer Region, die politisch immer noch einem Pulverfass gleicht.

Über den Weg Chinas von einem Entwicklungsland zu einer Weltmacht, die das Potenzial hat, dem internationalen Handel, der Kultur und Politik im nächsten Jahrhundert ähnlich den Stempel aufzudrücken, wie die USA bis heute, lässt sich zu viel sagen, um es in einem Artikel zusammenzufassen. Letztere finden sich im Dilemma wieder, von ihren internationalen Partnern im Ausland gebraucht zu werden, den Blick aber eigentlich auf ihre gesellschaftliche Zerreißprobe im Innern richten zu müssen. Hinzu kommen Saudi-Arabien, die Türkei, Iran, Australien, Brasilien, Ägypten, und weitere, die eine internationale Rolle suchen und sie teilweise bereits durch eine Beteiligung in internationalen Krisen finden (in welcher Form und mit welchem Ergebnis, sei an dieser Stelle dahingestellt). 

Die globalen Machtverhältnisse ändern sich – und die Spieler bringen sich in Position

Der Freedom House Index, der den Zustand der Demokratie in der Welt anhand einer Vielzahl von Kriterien misst, meldet das 16. Jahr in Folge einen globalen Rückgang der Demokratie. Nur einer von fünf  Menschen lebt in einem freien Land und die Verbindungen unter den Autokraten werden stärker. Wer auf welcher Seite steht, sehen wir auch am Abstimmungsergebnis der UN-Generalversammlung, die den russischen Einmarsch mit Ausnahme von Nordkorea, Syrien, Belarus und Eritrea verurteilen. Die Liste der Enthaltungen setzt sich mit China, Kasachstan, Algerien, Mali, Sudan, Vietnam, Uganda (u.a.) auch nicht gerade aus den vorderen Plätzen des Demokratie-Rankings zusammen. Die Abstimmung verdeutlicht, wie der Ukraine-Krieg symbolhaft für die Auseinandersetzung zwischen den Ländern steht, die …

“[…] die auf der Charta der Vereinten Nationen beruhende internationale regelbasierte Rechtsordnung unterstützen, und denen, die diese Ordnung ablehnen oder als Menü a la carte betrachten.”

Christoph Heusgen im Artikel “Der Bruch”, Süddeutsche Zeitung 4. März 2022

Europa: Frieden im Inneren – Krieg drumherum?

Auch die EU, immerhin Friedensnobelpreisträgerin für die Sicherung des Friedens innerhalb ihrer Mitgliedstaaten, muss ihren Platz in diesem Spiel noch finden und schafft es nur schwer, sich zu internationalen Krisen geschlossen zu positionieren, geschweige denn in diesen gemeinschaftlich zu agieren, einzugreifen oder sich mit ihrem gesamten Gewicht lösungsorientiert einzubringen. Beim Debakel in Afghanistan hatte noch jedes EU-Land seine Bürger separat evakuiert. Mechanismen zu finden, darunter ganz konkret die Abschaffung der Einstimmigkeit in EU-außenpolitischen Fragen, wäre dringend angeraten, angesichts des Konfliktgürtels, der sich immer enger um Europa schnallt. Davon ein vollständiges Bild zu zeichnen würde zu lange dauern, daher in aller Kürze ein paar Punkte herausgegriffen – ich hoffe, man verzeiht mir dabei einen mitunter zynischen Ton, diese Konflikte brennen oder schwelen schon lange, so dass man sich ober der Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft nur verwundert die Augen reiben mag:

  • Libyen: Blickt da noch jemand durch? Ein komplexes Geflecht nahezu aller oben genannter Haupt- und Nebenakteure der internationalen Politik steht hinter Milizen oder der strauchelnden international anerkannten Regierung, die es auf absehbare Zeit nicht schaffen wird, dem Land Stabilität und Frieden zu garantieren. Im Gegenteil, die Teilung des Landes ist hier die wahrscheinlichere Option.
  • Sahel (von Guinea bis Somalia): Schon immer unrettbar verloren? Ärmste Gesellschaften, sich verschlechternde Umweltbedingungen, unübersichtliche Territorien, kaum handlungsfähige Regierungen, reihenweise Militärputsche und humanitäre Krisen, militante Gruppen, ethnische und religiöse Konflikte bieten den perfekten Nährboden für Radikalisierung und politische Instabilität.
  • Erinnern Sie sich noch an den Islamischen Staat und Al-Qaida? Bereits während die Terrororganisationen weite Teile von Syrien und dem Irak kontrollierten und den Westen terrorisierten, haben sich Ableger und Kooperationen mit anderen islamistischen Netzwerken gebildet. Zahlreiche Kämpfer aus dem Mittleren Osten haben dort in den letzten Jahren Zuflucht gefunden.
  • Syrien: Lange nichts mehr in der Zeitung gelesen? Hier findet weiterhin eine der größten Tragödien seit dem Zweiten Weltkrieg statt, Lösung nicht in Sicht.
  • Balkan: Dasselbe Drehbuch wie in der Ukraine? Von russischen Hackern und Trollfabriken gesteuerte Desinformations-Kampagnen schüren bestehende gesellschaftlichen Spannungen. 
  • Osteuropa: Der Nächste, bitte?! Mit Ausnahme von Belarus, das uns mit der Instrumentalisierung von Flüchtlingen Ende letzten Jahres gezeigt hat, was es von der EU und deren Sanktionen hält [LINK Kommentar Stefan], geht in allen Ländern Osteuropas die Befürchtung um, das nächste Ziel des Putinschen Großmachtstrebens zu werden.
  • Arktis: Schmelzender Frieden? Wirft man einen Blick über das beschauliche Skandinavien wird es schon wieder ungemütlich: Die schmelzende Arktis legt Ressourcen und Seewege offen, über welche die Anrainerstaaten, darunter Russland und die USA, sich nicht ohne Streit einigen werden. Nicht umsonst hat vor kurzem ein russisches U-Boot im Polarmeer eine russische Flagge auf den Boden des Ozeans gepflanzt.
  • Nordirland: Wer dachte, wir wären schon fertig hat wohl den Brexit vergessen. Mit dem Streit über die Zollregelungen für Nordirland ist dort ein Konflikt wieder aufgeflammt, gegenüber dem die Bestrebungen Schottlands für ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum wie ein harmloser Kindergeburtstag erscheinen.

In dieser Situation findet sich nun unsere grüne Außenministerin wieder. Nicht einfach für eine Politikerin, der viele als Kanzlerkandidatin nicht zugetraut hatten, auf Augenhöhe mit Autokraten wie Putin oder versierten Strategen wie Macron agieren zu können. Ein Mangel an Persönlichkeit, Rückgrat oder Kompetenz wurde ihr teilweise bescheinigt. Und das häufig von Männern, die offenbar noch nicht erlebt hatten, wie Annalena Baerbock für grüne Werte einsteht, darüber mitreißende Reden halten kann oder nicht wussten, dass sie Völkerrecht und internationale Beziehungen studiert hat. Vielleicht wollte man nicht aussprechen, dass man es einer Frau nicht zutraut? Und das im Jahr 2021, in dem sich Angela Merkel als eine der global anerkannteste Regierungschef:innen aus dem Amt verabschiedet? Der es nach der Wahl Trumps als einziger zugetraut wurde, die westlichen Werte zu retten?

Raus aus den Krisen mit neuen Instrumenten

Eine wertebasierte Außenpolitik möchte Annalena machen, eine feministische Außenpolitik. Was das genau heißt, werden wir in bald noch in unserem Podcast besprechen. In aller Kürze: Feministische Außenpolitik heißt nicht, dass ab sofort nur noch Frauen Außenministerin werden dürfen. Es ist ein methodischer Ansatz, der marginalisierte Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht klassische Machtinstrumente wie militärische oder wirtschaftliche Stärke. Durch die Inklusion von marginalisierten Gruppen in politische Entscheidungen, in Entscheidungen über internationale Regelwerke, soll sichergestellt werden, dass für alle die „menschliche Sicherheit“ garantiert wird und damit nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern auch deren Sicherheit vor gesundheitlichen Risiken, vor Hunger, vor Ungerechtigkeit oder umweltbedingten Schäden. Einer ihrer Vorgänger, Frank-Walter Steinmeier, sprach immer vom außenpolitischen Instrumentenkasten, der für jedes Problem das richtige Werkzeug bereithalten sollte. Der feministische außenpolitische Instrumentenkasten hält vielleicht die Werkzeuge bereit, die wir für die Krisen und Probleme des 21. Jahrhunderts benötigen.

In jedem Fall scheint sie die richtige für das Amt zu sein: Beim Antrittsbesuch in Moskau trat sie selbstbewusst und konzentriert neben einem der profiliertesten Diplomaten auf. Der russische Außenminister Lawrow war bereits UN-Botschafter, als sie noch zur Schule ging. Trotz perfektem Englisch spricht er auf Konferenzen oder Gipfeln oft in einem sehr kalt und scharf klingenden, sogar für die Dolmetscher schwer verständlichen russischen Dialekt. Antrittsbesuche bei ihm sind kein Selbstläufer, doch die Pressekonferenz im Anschluss an das Treffen der beiden begann verspätet, die beiden redeten miteinander, Lawrow nannte es anschließend ein „konstruktives und interessantes Gespräch“. Die Presse und politische Kommentatoren lobten, wie souverän Annalena (zur Erinnerung: studierte Völkerrechtlerin) die russischen Drohungen gegen die Ukraine, den Umgang mit der Menschenrechtsorganisation Memorial und Kritikern wie Navalny verurteilte und zugleich den richtigen Ton traf, um das Kooperationsangebot auf Basis von UN Charta, Paris Charta und Helsinki Akte in den Vordergrund zu stellen und für die Wiederbelebung des Normandie-Formats zu werben.

Ihr klarer Kurs, das fortwährende Bemühen um multilaterale Zusammenarbeit, das unmissverständliche Benennen von Problemen und das Verständnis der komplexen Zusammenhänge und Widersprüche der internationalen Politik, erweist sich als Glücksfall in diesem Moment der Zeitenwende. Die besondere Verantwortung Deutschlands in der Verteidigung der freiheitlichen Grundwerte spiegelt sich in den Sanktionen wider. Als stark vernetzte Exportnation hat man jahrzehntelang die Vorteile er Globalisierung genossen, trägt nun aber auch einen großen Teil der Konsequenzen aus dem Abbruch von Handelsbeziehungen mit Russland. Die Außenministerin hat schnell erkannt, worum es hier geht und dass Deutschland mit einem solchen Signal zeigen kann, dass man nicht nur von internationaler Verantwortung redet, sondern diese auch übernimmt, nicht nur am Spielfeldrand steht, sondern im multilateralen Verbund auch die Spielmacherposition einnehmen  kann, wenn es darum geht, Grundwerte zu verteidigen.

Der Übergang zur Tagesordnung nach der wirklich bedeutungsvollen Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskij im Bundestag wirkte, als wäre die Zeitenwende nach drei Wochen schon wieder vorbei. Bundesregierung und Bundestag müssen diese nun mit konkreten Maßnahmen füllen. Mit dieser Weltlage, der unsicheren Zukunft, dem Klimawandel und auch inneren, gesellschaftlichen Problemen, die Deutschland derzeit hat, können wir es uns nicht leisten, dass 100 Milliarden an Sondervermögen einfach verpuffen.

Wenn auch die diplomatischen Bemühungen in den letzten Monaten nochmal auf Hochtouren liefen, der Krieg in der Ukraine hat mit dem offiziellen Einmarsch der russischen Truppen eine weitere Eskalationsstufe erreicht. Sie folgt einem durchdachten Plan und einem in sich schlüssigen, aus “sowjetischen Enttäuschungen” gebildeten Narrativ Putins, der in der Zukunft vermutlich weitere Eskalationen bereithält. Diese gilt es mit allen Mitteln zu verhindern und deshalb müssen EU, NATO und alle Unterstützer der Ukraine sehr vorsichtig sein. Der Drahtseilakt, einerseits die Grundwerte des Völkerrechts zu verteidigen und andererseits keine Handlungen zu unternehmen, die die Lage verschlimmern oder noch weniger kontrollierbar machen, wird Annalena und ihre Kollegen noch lange beschäftigen. Bilder der zerbombten Geburtsklinik in Mariupol und die offensichtlich falschen Erzählungen russischer Vertreter sind kaum zu ertragen, niemand möchte einen solchen Verstoß gegen die Genfer Konventionen unbeantwortet lassen. Doch wohin würde ein militärisches Eingreifen, eine Flugverbotszone, eine direkte Konfrontation zwischen NATO und Russland führen? Es wäre verantwortungslos auch nur das geringste Risiko einzugehen, in Putins offenes Messer weiterer Worst-Case-Szenarien zu laufen.

Zugleich darf Annalena Baerbock die vielen anderen Krisen nicht aus dem Blick verlieren. Möglicherweise fällt in ihre Amtszeit eine wegweisende Phase, in der Akteure sich entscheiden (müssen) welche Richtung sie im 21. Jahrhundert einschlagen. Sollten Russland und China ihren bisherigen Kurs fortsetzen und die USA versuchen, ihre Dominanz zu behalten, muss die EU (zur Erinnerung: Friedensnobelpreisträger) aufpassen, nicht zwischen all den Interessen zerrieben zu werden.

Chinesische Diplomaten winden sich derzeit in akrobatischer Rhetorik im Versuch an drei strategischen Zielen gleichzeitig festzuhalten, die durch den russischen Einmarsch in Widerspruch geraten sind: Erstens, der strategischen “Freundschaft ohne Grenzen” mit Russland. Zweitens, der territorialen Integrität aller Länder und der Blockadehaltung gegenüber allen “Einmischungen in innere Angelegenheiten”, womit sie aller Kritik an ihrer Unterdrückung der Uiguren oder der Demokratiebewegung in Hongkong begegnen. Drittens, möchte die chinesische Führung vermeiden, dass sie selbst wirtschaftlichen Nachteilen, Sanktionen oder dem Misstrauen der EU oder USA ausgesetzt werden. Doch unter die Aussagen mischen sich die Argumente, die Putin derzeit verwendet. Die Worte “Krieg” oder “Invasion” werden vermieden, sondern es wird höchstens von “russischer Operation” gesprochen. Ob China an der Seite Russlands mithilfe nicht völkerrechtskonformer Durchsetzung ihrer Interessen oder mithilfe des wirtschaftlich und technologisch nützlicheren Westens als Weltmacht wiederauferstehen möchte, wird das 21. Jahrhundert entscheidend prägen.

Joschka Fischer auf dem außerordentlichen Bielefelder Parteitag von Bündnis90/Die Grünen am 13. Mai 1999

Im “Westen”, in Europa wird man sich entscheiden müssen, mit welchen Mitteln die internationale Ordnung, das Völkerrecht, die Souveränität der Völker, die Menschenrechte und der Frieden verteidigt werden sollen und welche dieser elementaren Bestandteile des globalen Zusammenlebens im Zweifelsfall hinter andere zurücktreten müssen. Die Zukunft wird Dilemma-Situationen bereithalten, wie sie bereits Joschka Fischer aushalten musste und sinnvoll zusammenzubringen wusste, wie einerseits zur Beteiligung am ersten deutschen Auslandseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg:

„Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen“

… und andererseits mit seinem 

Excuse me, I am not convinced“ 

zum Irak-Krieg. In beiden Fällen hat sich gezeigt, dass er auf der richtigen Seite stand: Der, des international abgestimmten und verantwortungsbewussten Vorgehens auf Basis sicherer Erkenntnisse. Multilateralismus, internationale Organisationen und Bündnisse werden in dieser Phase mehr denn je gebraucht. Dem hat sich die deutsche Außenpolitik wie auch wir Grünen aus ihrer historischen Verantwortung heraus eindeutig verschrieben.

Recht des Stärkeren vs. Stärke des Rechts

Welchen Ausweg könnte es geben? Die Ukraine führt es uns vor Augen: Wir erleben großartige Solidarität innerhalb des Landes und zu diesem Land. Der Einsatz des Präsidenten, der kämpfenden Ukrainer sind absolut bewundernswert. Wir sehen Videos, wie Zivilisten einfahrende russische Panzerfahrzeuge stoppen und Widerstand gegen die Invasoren, wie ihn sich niemand ausgemalt hätte. Die Einigkeit innerhalb Europas ist erstaunlich. Eine jahrelange Blockadehaltung um die Verteilung von Flüchtlingen mündet darin, dass ausgerechnet Polen und Ungarn bereits fast 800.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen haben. Ich möchte auch betonen, dass die Differenzierung zwischen der Flüchtlingswelle 2015 und der jetzigen problematisch ist. Dennoch könnte es ein Schritt in Richtung Einigkeit der EU sein. Bei den Sanktionen geht die EU voran – und mehr als 40 Staaten, darunter die ansonsten sehr zurückhaltenden Finnen und Schweden und sogar die seit 1516 neutrale Schweiz (!) folgen mit nahezu identischen Sanktionspaketen. 

Denn ohne den großen Knall scheinen Gesellschaften oft nicht zu verstehen, dass Sie ein bestehendes Problem nicht einfach ignorieren können. Um einen noch größeren Knall zu verhindern müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen. In einigen Punkten gibt es erste Tendenzen in die richtige Richtung:

  • Putin betrachtete die EU als zahnlosen Tiger und jahrzehntelang blieb es bei Ankündigungen über eine stärkere Verteidigungskooperation. Jetzt schafft man es, sich innerhalb einer Woche auf gemeinsam finanzierte Kampfjets für die Ukraine zu einigen.  Vielleicht lernen wir daraus, dass wir die Konflikte um uns herum, die Klimakrise, “früher, entschiedener und substanzieller” angehen müssen, wie es sich die deutsche Außenpolitik 2014  vorgenommen hat. 300 Milliarden für Sicherheit und Klimaschutz sind ein deutliches Signal, dass die Ampel jetzt auf Grün steht, um uns, um Deutschland für die Phase nach der Zeitenwende bereit zu machen.
  • Putin wollte die NATO-Osterweiterung stoppen. Die NATO wurde von einem (zugegebenermaßen nicht unbedingt fundiert argumentierenden aber immerhin) US-Präsidenten als “obsolet” und vom französischen Präsidenten als “hirntot” bezeichnet. Das Bündnis hat seinen ursprünglichen Zweck, wenn auch unverhofft und auf unschöne Weise, wiedergefunden und Finnland, Schweden und der Kosovo wollen beitreten.
  • Putins Ziel ist es, Russland wieder zu einer einflussreichen Großmacht werden zu lassen. Doch der globale Umgang mit Russland, dem geografisch größten Land der Welt, welches das größte Atomwaffenarsenal der Welt besitzt und zu dem andere Länder energiepolitisch in  großen Abhängigkeiten stehen, ist beispiellos. Das Land wird von den Vorteilen der Globalisierung abgeschnitten und in der Entfaltung seiner Machtkapazitäten massiv und dauerhaft geschwächt. Der Druck auf Putin wird sowohl aus der Bevölkerung als auch aus den Machtzirkeln ansteigen. Politisch bleiben nur China und weitere autoritäre oder zerfallene Staaten als Verbündete und für Putin der Griff zur ultimativen Drohung eines Atomschlags, um damit erstens abzuschrecken und zweitens Zugeständnisse zu erzwingen. Allen, die jemals daran gezweifelt haben wurde eine eindeutige Botschaft gesendet: Die liberalen Demokratien und multilateralen Zusammenschlüsse sind wichtig und funktionieren!

Bei all dem sollten wir aufpassen, dass es nicht zu einer elementaren Spaltung zwischen einem “Wir” und “Denen”, dem “Westen” und einer “Achse des Bösen” kommt. Solidarität mit der Ukraine und unter allen Partnerländern, ein geschlossenes Vorgehen bei den Sanktionen wird langfristig nur helfen, wenn es dazu führt, dass alle auf der gemeinsame Basis einer soliden, inklusiven, erneuerten internationalen Ordnung stehen. Das wird der Schlüssel zu einem friedlichen 21. Jahrhundert und einer stabilen europäischen Sicherheitsarchitektur sein. Nur auf diesen Grundsätzen aufbauend kann es ein gemeinsames Angebot an Russland zu Friedensgesprächen geben. Zugleich Aggressoren in aller Deutlichkeit die Grenzen aufzuzeigen ist ein diplomatischer Spagat, aber auf einem Bein kann man nicht stehen.

Die Transformation in eine klimaneutrale Gesellschaft werden wir alle, unsere Kinder und Enkel miterleben. In welche Richtung die Transformation der internationalen Ordnung gehen wird, kann noch niemand sagen, aber auch die werden wir, unsere Kinder und Enkel spüren. Vielleicht – hoffentlich – wird sie einfach multilateral, europäisch, inklusiv, grün geprägt. Nicht nur Annalena, auch Robert, Cem, Steffi und Anne haben die Möglichkeit, das zu tun. In einer sich verändernden Welt, haben sie sogar die Pflicht dazu.

Die Welt verändert sich. Nicht nur durch den Klimawandel, sondern auch durch die Entwicklungen und Entscheidungen, die einzelne Länder treffen. Drei Tage nach dem Angriff auf die Ukraine erschien am 27. Februar der letzte IPCC Report zum aktuellen Stand der Klimaforschung. Diese Gleichzeitigkeit sowie die energiepolitischen Abhängigkeiten, die den Umgang mit Russland zusätzlich verkomplizieren, wären noch ein paar weitere Kapitel zu schreiben wert. In dieser Thematik setzt Robert Habeck zumindest neue Maßstäbe in der deutschen Politik, indem er die Komplexitäten der Zusammenhänge und das daraus abgeleitete Regierungshandeln ausführlich aber klar kommuniziert. Auch davon werden wir angesichts zunehmender Spannungen und globaler Komplexitäten viel mehr brauchen.

Gerade werden die Weichen für das globale Zusammenleben im 21. Jahrhundert gestellt. Deshalb wollte ich mit diesem Text einen Blick über die Grenzen unseres Landkreises hinaus werfen und bei der Gelegenheit daran erinnern, dass Außenpolitik oft nicht so weit von uns weg ist, wie man vermuten könnte. Das Wasser, das an uns vorbeizieht, wenn wir am Donauufer entlang spazieren, fließt 6 Tage später an der ukrainischen Grenze ins Schwarze Meer. Einige von euch haben es noch selbst erlebt, dass hier Pershing II-Raketen stationiert waren. Dieser Krieg ist ca. 1600 Kilometer entfernt, doch die Grundsätze, die dort verteidigt werden, sollten hier deutlich geworden sein. Und damit betrifft er uns alle.

Sebastian Sieber hat an den Universitäten Heidelberg und Augsburg Politikwissenschaft, Soziologie und Konfliktforschung studiert und war Vorstand des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung. Nach dem Studium hat er im Programm- und Organisationsteam der Münchner Sicherheitskonferenz gearbeitet und ist seit 2020 bei Hensoldt beschäftigt. Seit 2016 ist er Mitglied von Bündnis90/Die Grünen in Neu-Ulm.


 Du willst auch helfen? Das kannst du jetzt tun:

  • Spende Geld, wenn du kannst: Zum Beispiel an das „Aktionsbündnis Katastrophenhilfe“ oder an „Ärzte ohne Grenzen“. Sachspenden sind nur dann sinnvoll, wenn eine Organisation bei dir vor Ort konkret darum gebeten hat.
  • Biete Übernachtungsplätze für Geflüchtete an, wenn deine Wohnung groß genug ist: Zum Beispiel über das Netzwerk „Elinor”.
  • Stoppe Fake News und Propaganda: Verbreite nur Informationen aus sicheren Quellen und stoppe so den Strom an Desinformationen und Fake News.
  • Teile keine Bilder und Videos von Kriegsgefangenen: Die Genfer Konvention verbietet das, denn es kann schlimme Folgen für die Gefangenen und ihre Familien haben.
  • Geh auf Demos und zeig deine Solidarität: Zum Beispiel, indem du ein Herz in den Farben der Ukraine ins Fenster hängst.
  • Nutz deine Sprachkenntnisse, wenn du Russisch oder Ukrainisch kannst: Hilf deinen Bekannten und Verwandten, an verlässliche Informationen zu kommen.

Volle Solidarität mit der Ukraine |GRÜNE BAYERN (gruene-bayern.de)

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