Auch wenn der Nachname ein deutsches Wort im eigentlichen Sinne ist, meine Familie lebte vor drei Generationen noch nicht hier. Drei von vier meiner Großeltern sind sogenannte Heimatvertriebene, die nach dem Zweiten Weltkrieg fliehen mussten.
Der Großvater väterlicherseits, damals 8 Jahre alt, berichtete von Transporten in Viehwagons der Bahn. Für ihn war es eine Art Abenteuer, seine Eltern versuchten die Verzweiflung zu verbergen, dass an jeder Station ein Teil der Familie aussteigen musste, mit der Gewissheit dass man sich lange Zeit – eventuell sogar nie mehr – sehen würde.
Seine Vorfahren waren Deutsche, Tschechen, Schotten, Iren, sogar italienische Arbeitsmigranten, die im 19. Jahrhundert vor allem als Maurer in ganz Europa gefragt waren.
Die Großeltern mütterlicherseits wohnten ebenfalls im ehemaligen Protektorat Böhmen und Mähren, sprachen deutsch und tschechisch. Später berichteten sie nicht viel von „der Flucht“, nur hin und wieder ein paar Erinnerungsfetzen – wie man aufgrund der mangelnden Hygiene jegliches Schamgefühl unterwegs verlor oder wie die Uroma mit anderen Alten, die zum Gehen zu langsam waren, in eine Scheune gesperrt wurde, die man daraufhin angezündet hat.
Entgegen der heute oftmals verklärten Sicht wurden sie nicht herzlich empfangen – im Gegenteil. Sie waren die unliebsame Erinnerung an den fehlgeleiteten kollektiven Größenwahn des Nationalsozialismus. Der Krieg war verloren, es fehlte an allem, und dann kamen auch noch die Flüchtlinge und nahmen Platz und Essen weg. Mein Großvater erinnert sich noch gut daran, wie anders alles war. Die Sprache, die Gepflogenheiten, der Argwohn ihm gegenüber, auch wenn er ein Kind war.
Am heutigen Internationalen Tag der Migranten ziehen wir Parallelen zum Hier und Jetzt. Während täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken und Europa seine Augen vor dem unfassbaren Leid verschließt, treiben die Mächte im Osten ihr perfides Spiel – mit Frauen, Männern und vielen Kindern, die als Schachfiguren missbraucht werden, um die EU unter Druck zu setzen.
Noch immer harren tausende Menschen an der Grenze von Belarus zu Polen in der Kälte aus. Zu viele von ihnen sind bereits erfroren oder verhungert. Um diesem dringenden Thema Ausdruck zu verleihen, führte der Weg von Außenministerin Annalena Baerbock nach ihrem Besuch in Paris und Brüssel nach Warschau. Bei ihrem Antrittsbesuch dort forderte sie die polnische Regierung auf, in der Grenzregion humanitäre Hilfe für Migranten zuzulassen und versicherte Polen und den baltischen Staaten angesichts von Lukaschenkos Erpressungsmanövern im Gegenzug die volle Solidarität Deutschlands.
Ihr polnischer Amtskollege Rau unterstrich dagegen die Forderung Polens an die neue deutsche Regierung um finanzielle Wiedergutmachung für Schäden des Zweiten Weltkriegs, ohne explizit auf die aktuelle Situation einzugehen. Eine Forderung nach Rekompensation für zerstörte Kunstwerke, Denkmäler, Bücher und Schriften muss zweifelsohne diskutiert werden. Auch wenn der Kontext ein anderer sein mag, diese Forderung korreliert zeitlich auf geradezu irritierende Weise sowohl mit den sich abzeichnenden finanziellen Strafmaßnahmen, die Polen wegen seines Umbaus rechtsstaatlicher Strukturen zu befürchten hat, als auch mit Baerbocks Ruf nach humanitären Hilfen. Ein Gegenpfand für Menschenleben, die heute auf dem Spiel stehen?
Solange wir es zulassen, dass Migranten zum Erreichen politischer Ziele instrumentalisiert und bewusst als Pressmittel eingesetzt werden, so lange werden jährlich Millionen von Menschen leiden und sterben, direkt vor unseren Toren und nicht wie bisher im Mittelmeer und damit fernab unseres Aufmerksamkeitshorizontes.
Lasst uns als EU eine wirkliche Union sein, in sich geeint und klar im Verfolgen unserer Ziele und im Beschützen und Leben unserer Werte. Heute, im Gegensatz zu den 1940er Jahren, haben wir durch unser geeintes Miteinander Frieden, Sicherheit und Wohlstand erreicht.
Wir können es uns leisten, zu helfen. Es ist unsere Pflicht und Verantwortung.
Euer Stefan Nußbaumer
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